Ahh, die bayerische Dorfidylle: Weite Felder und Wiesen, enge Gassen und kleine Kirchen, eine eingeschworene, familiäre Landgemeinde. So in etwa kann man sich auch mein Heimatdorf vorstellen, das ich vor mittlerweile fast sechs Jahren verlassen habe. Was passiert aber, wenn etwas komplett Unerwartetes, Unvorstellbares, Unerhörtes das eingespielte Dorfleben stört?
Let’s set the scene: Wir befinden uns in einem kleinen idyllischen Dorf mitten in Bayern. Jeden Morgen treffen sich dieselben Leute beim Bäcker und kaufen ihre Brezen. Diese werden den Kindern in die Schulranzen gepackt, bevor sie zur Bushaltestelle geschickt werden. Der Bus fährt vielleicht achtmal am Tag, Wochenenden sind davon natürlich ausgenommen. Die 1125 Bewohner:innen sind stolz auf das neu erbaute Sportheim mit großer Turnhalle und sie freuen sich, dass die Fußball-Herrenmannschaft gerade auf Platz 6 der Kreisliga-Tabelle steht. Wer sich auf der Straße trifft, grüßt sich. Alle kennen sich mindestens vom Sehen, größtenteils sogar mit Vornamen. Mittlerweile ist auch im tiefsten Bayern die Digitalisierung angekommen und Sepp aus der Gartenstraße hat eine WhatsApp-Dorfgruppe erstellt. 194 Personen tauschen sich darin größtenteils über Veranstaltungen aus, die demnächst im Dorf stattfinden oder weisen auf entlaufene und gefundene Haustiere hin.
Dörfliche Aufgaben für deinen Freund und Helfer
Doch dann passiert das Unerwartete: An einem Donnerstagabend ploppt bei allen Dorfgruppen-Mitgliedern gleichzeitig eine Nachricht auf. Es ist ein Foto von einem unbekannten Mann, der sich offensichtlich in dem heißgeliebten, familiären, idyllischen Dorf aufhält. EIN UNBEKANNTER MANN! Schnell werden die Spekulationen laut: Er wurde in den vergangenen Wochen schon in den Nachbardörfern gesichtet. Jetzt hat ihn jemand „am Montag (09:15 Uhr) nähe Dorfbrunnen“ gesehen. Er muss sich also schon länger, seit mehreren Nächten, im Dorf aufhalten. Gestern Abend war er schon Richtung Sportheim unterwegs, „hat überall bissl reingeschaut“. In einem Nachbardorf soll er Kinder angesprochen haben, alle sollten lieber auf der Hut sein.
„Polizei anrufen. Die sollen den kontrollieren u. mitnehmen 😠“ (5 Daumen hoch zu dieser Nachricht) – „Die Frage ist ob tatsächlich jemand anruft 🥹. Wäre super 🙏“ – „Hat denn jemand schon bei der Polizei angerufen ???“ – „Ich. Jetzt. Eine Streife kommt“ – „Dankeschön gut gemacht 🙏“.
Ausnahmezustand in der Dorfidylle
In der folgenden Nacht herrscht Ausnahmezustand im Dorf (zumindest stelle ich mir das so vor). Die Kellertüren werden überprüft und ausnahmsweise abgesperrt, die im Garten hinterlegten Haustürschlüssel werden schnell in die Häuser gebracht. Seit zehn Jahren nicht benutzte Rollos werden heruntergelassen, die Gehsteige hochgeklappt. Dann in den frühen Nachmittagsstunden des nächsten Tages endlich die Entwarnung: „Polizei war da. Können aber so nichts machen. Er ist als Obdachloser in Deutschland gemeldet und war schon mehrmals bei der Polizeiwache. Spricht kein deutsch und mag sich nicht helfen lassen. Ist jetzt wieder Richtung Nachbardorf abgewandert.“
Die Szene, die ich hier beschreibe, hat so (oder so ähnlich) tatsächlich erst vor wenigen Wochen in meinem Heimatdorf stattgefunden. Meine Schwester hat mir davon erzählt, als ich meiner Familie nach zwei, drei Monaten mal wieder einen Besuch abgestattet habe. Im ersten Moment fand ich die ganze Geschichte bestenfalls lächerlich, schlimmstenfalls rassistisch, auf jeden Fall aber übergriffig. Hier wurde ein unschuldiger Mann beobachtet und fotografiert, ihm wurde sogar die Polizei auf den Hals gehetzt, weil … Ja, wieso eigentlich? Nur weil er im Dorf vorher noch nie gesehen wurde und vielleicht etwas anders aussieht als die bürgerliche, bayerische Mittelschicht, die den Großteil der Dorfbevölkerung ausmacht? Ernsthaft?
Ehrenfelder Treppenhäuser vs. bayerische Dorfstraßen

Hier will ich erwähnen, dass eine Frau der Dorfgruppe auch mitgeteilt hat, dass sie den unbekannten Mann mal ansprechen würde und fragen, ob er denn Wasser oder etwas zu essen bräuchte. Daumen hoch gab es dafür nicht. Ich war schon dabei, eine Diskussion mit meiner Familie vom Zaun zu brechen. Warum haben eigentlich nicht mehr Menschen wie diese Frau reagiert, sondern sind direkt vom Schlimmsten ausgegangen und haben einen Polizeieinsatz gefordert? Wenn ich in Köln jedes Mal die Polizei alarmieren würde, sobald ein fremder Mensch an meiner Wohnung vorbeiläuft, würde ich sonst zu nichts anderem mehr kommen – und die Polizist:innen im Übrigen auch nicht. Ich würde nicht mal auf die Idee kommen, die 110 zu wählen, wenn ich genau dem Mann, der in der Dorfgruppe nahezu eine Massenpanik ausgelöst hat, in unserem Treppenhaus in Ehrenfeld begegnen würde. Aber wenn ich ihn in meinem Heimatdorf treffen würde … Die Polizei würde ich sicher trotzdem nicht rufen, aber auffallen würde er mir hier schon. Vielleicht würde ich es auch irgendwie ungewöhnlich, befremdlich, sogar komisch finden.
Ich weiß, dass es in diesem Fall komplett irrational ist, aber irgendwo ist diese Dorfmentalität auch in mir verankert. Und in anderen Situationen mag ich das auch. Ich mag es, dass ich in der Heimat in Verhaltensmuster zurückfalle, die ich mir in Köln komplett abgewöhnt habe. Ich begrüße Menschen auf der Straße und feuere sonntags, wenn ich Zeit habe, die Kreisligamannschaft an. Ich stehe zehn Minuten am Fenster, beobachte eine ausgebüchste Ente und halte Wache, während meine Mama den Enten-Nachbarn über das entkommene Exemplar informiert. Ich bemerke, dass in unserer Straße schon die Mülltonnen vor die Häuser gestellt wurden und schließe daraus, dass wir das heute Abend auch noch machen sollten. Und ich habe einen Anflug von unangenehmen Gefühlen, wenn sich ein fremder Mann im Dorf aufhält, der mir in Köln nicht einmal aufgefallen wäre. Im Gegensatz zu den Polizei-rufenden Menschen aus der Dorfgruppe, erkenne ich darin aber zumindest ein Problem.
Was der Bayer nicht kennt …
Letzten Endes kann man das Fazit der Geschichte mit einer alten, einfachen Weisheit zusammenfassen: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Nach den zwei Jahren, die ich mittlerweile in Köln lebe, habe ich mich daran gewöhnt, dass dort ganz unterschiedliche Menschen durch die Großstadtstraßen laufen und bei weitem nicht von allen, die anders aussehen als ich, direkt eine Gefahr ausgeht. Dass das in meinem Heimatdorf aber nicht normal ist und man hier noch mehr Sorge vor allem Fremden hat, ist offensichtlich und vielleicht sogar nachvollziehbar. Klar, was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht. Aber auch hier gibt es in vielen Haushalten sicher nicht mehr nur die Schweinshax’n mit Knödl, sondern auch mal eine Couscous-Pfanne mit Tofu. Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Offenheit bald nicht mehr nur auf die Kulinarik beschränken wird.

Von Lena (24): Lena ist kein nachtragender Mensch. Aber über die Unkreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung ist sie immer noch nicht ganz hinweg. Als hätte unsere Generation nicht schon genug damit zu tun, sich ständig abzuheben, muss Lena sich auch noch im Meer der Lenas behaupten. Sie fasziniert die Menschen um sich herum als Zuhörerin und Freundin. Als wissbegieriges Kind und seriöse WDRlerin. Als aufmerksame Beobachterin und politisch interessierte Journalistin.
Ich hab iwie gemischte Gefühle dazu. Gleich die Polizei zu informieren, find ich auch maßlos übertrieben. Auf der anderen Seite ist das anonyme Großstadtleben in der Hinsicht oft einfach ignorant. Wenn ein neuer Mensch in der Nachbarschaft einzieht, weiß man nix über den, alles und jeder wird ignoriert und jeder bleibt bei sich. In Dörfern achtet man eher aufeinander. Das kann man als spießig oder neugierig werten. Das Konzept Augen zu und Wegschauen ist für mich persönlich auch nicht immer die beste Alternative.
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