Kurz bevor ich in mein Auslandssemester nach Lettland startete, habe ich eine neue Spotify-Playlist erstellt: Riga Vibes. Damals war der Plan, dort Lieder zu sammeln, die ich in Riga neu entdecken würde und die mich an die Erasmus-Zeit erinnern könnten. Fun fact: In Riga stößt man eher auf Lieder, die in Deutschland schon seit fünf Jahren in Vergessenheit geraten sind als auf irgendetwas Neues. So hat sich die Playlist zu einer Art musikalischem Fotoalbum entwickelt mit 62 Songs, die 62 Momente einfangen und mich direkt in diese Momente zurück katapultieren. Hier eine Auswahl.
Lloyd, I’m ready to be heartbroken – Camera Obscura
Schon die Reise nach Lettland an sich war für mich etwas Besonderes. Es war mein erster Flug alleine, mein erster Flug mit Aufgabegepäck, mein erster Start in das Leben in einem fremden Land. Eine meiner größten Sorgen war es, mit niemandem wirklich zu connecten. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, in den nächsten fünf Monaten viel Zeit alleine zu verbringen. Auch wenn ich grundsätzlich gerne neue Menschen kennenlerne, bin ich keine endlos extrovertierte Person und konnte mir nicht vorstellen, innerhalb von fünf Monaten wirklich tiefe Verbindungen aufzubauen.
“Lloyd, I’m ready to be heartbroken” steht für mich für meine Verwunderung darüber, wie viele tiefe Verbindungen ich doch aufgebaut habe. Und vor allem wie schnell! Eine meiner später engsten Freundinnen benutzte den Song noch bevor ich sie kennenlernte in ihrer Instagram-Story. Ein paar Wochen nach meiner Ankunft sitze ich mit ihr an einem verkaterten Nachmittag in meinem Zimmer. Wir trinken Tee und versuchen, die Ereignisse der letzten Nacht zu rekapitulieren. Wir erzählen uns alles: keine Verschönerungen, keine Filter. Plötzlich merke ich, wie verbunden ich ihr und so vielen anderen Personen, die ich erst wenige Wochen kenne, schon bin. “Lloyd, I’m ready to be heartbroken” spielt, wir nippen an unserem Tee und ich fühle mich nach nur einem Monat aufgehobener als ich es jemals erwartet hätte. Erasmus ist der Katalysator für enge Connections.
Cupid Shuffle – Cupid
Was dem Katalysator sicher auch nicht geschadet hat, ist die Menge an Partys, die wir in Riga und um Riga herum gefeiert haben. Ich habe selten eine so feierwütige Meute an Menschen kennengelernt wie in meinem Erasmussemester. Dienstags und mittwochs geht es nach dem kollektiven Champions-League-Schauen in einer Sportsbar noch in den Club, donnerstags wird Bierpong gespielt, an den Wochenenden werden die Bars und Clubs in Tallinn, Vilnius, Helsinki und natürlich auch in Riga selbst unsicher gemacht. Alle sind motiviert, alle sind am Start, alle gehen steil. Egal, wann und wo.
Wir sind gerade nach einer Wanderung durch die Schneewelt Lapplands mit wunderschöner Nordlicht-Begleitung zurückgekommen. Eigentlich sind wir müde und nahezu erschlagen von all den Eindrücken; auf ein Getränk kommen dann aber doch noch alle mit in die einzige Bar in unserem kleinen finnischen Ort. Die Bar entpuppt sich als “Club”. Wir erspähen zumindest eine Tanzfläche und plötzlich ist alle Müdigkeit wie weggeblasen. Die Schneehosen und dicken Jacken werden ausgezogen und in eine Ecke des Raumes gepfeffert. Als der “Cupid Shuffle” gespielt wird stehen wir schon in unserer Skiunterwäsche zwischen der spannendsten Kombination aus Menschen (wirklich, von Hawaiihemd bis Anzug und Krawatte alles dabei!) und geben unser Bestes, bei den Tanzschritten mitzuhalten. Irgendwer bestellt noch eine Runde Shots, wir tanzen und trinken und lachen und fühlen uns, als wären wir zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort.
Hideaway – The Weepies
Diese Einstellung zog sich zwar durch meine gesamte Zeit in Riga, trotzdem gab es Momente, an denen ich das so gar nicht fühlte. Vor allem an diesen verkaterten Tagen, an denen ich es erst gegen 16 Uhr schaffe, meine Vorhänge aufzuziehen, nur um festzustellen, dass es gerade schon wieder dunkel wird und ich mich wieder im Bett verkrieche. Diese Momente, in denen ich abends ausnahmsweise allein in meinem Zimmer sitze, weil ich mir endlich mal ein bisschen Zeit für mich nehmen wollte, ich dann aber fast sekündlich jegliche Instagram-Storys und BeReals checke, da mich meine FOMO sonst verrückt machen würde. Oder die Gesprächsrunden mit all meinen engen Freund:innen, wenn ich ihnen und mir selbst mal wieder eingestehen muss, dass ich am letzten Party-Abend Mist gebaut habe und ich mich deswegen schlecht fühle. Momente, in denen meine engsten Riga-Vertrauten traurige Neuigkeiten aus der Heimat bekommen, die uns irgendwie wieder in die Realität zurückreißen und mich viel mehr mitnehmen als erwartet.
Aber zumindest haben wir einander. Eine meiner Playlists läuft, als wir an einem solchen schwierigen Abend gemeinsam in der WG kochen. Gutes Essen und gute Gesellschaft lassen die Welt zumindest wieder ein bisschen besser aussehen. Eine meiner Freundinnen zeigt mir “Hideaway”, weil es zu der Stimmung meiner Playlist passt. Wird direkt zu dieser Playlist und zu den “Riga Vibes” hinzugefügt. Wir kochen und essen, weinen zusammen und reichen uns gegenseitig Taschentücher, quatschen stundenlang, bis wir sogar wieder lächeln können.
It’s time – Imagine Dragons
Die tränenreichste Zeit lag da aber erst noch vor uns. Anfang Januar geht es los: Die ersten Leute verlassen Riga. Die Verabschiedungen fallen mir teilweise so viel schwerer als gedacht. Bei manchen Personen beruhigt es mich, dass ich sie schon zu Karneval in Köln begrüßen kann, bei anderen ist es vielleicht sogar ganz gut, dass ich sie nicht so schnell wiedersehen werde. Aber am schwierigsten ist die Verabschiedung von den “Zwischendrin-Personen”. Menschen, die ich jede Woche mindestens ein-, zweimal gesehen habe, mit denen ich gefeiert habe und auch tiefgründige Gespräche hatte, mit denen ich mich aber nie aktiv verabredet habe. So viele Personen, an die ich mich in den fünf Monaten so sehr gewöhnt habe und die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Viel zu viele Personen, um wirklich mit allen engen Kontakt halten zu können.
Dazu kommt noch, dass ich mich auch selbst von der Stadt verabschieden muss. Von all den Möglichkeiten und Erlebnissen, die sie mir geboten hat. Von einer Version von mir selbst, die ich in Riga so richtig ausleben konnte. Immer wieder erwische ich in den letzten Wochen und Tagen jemanden – auch mich selbst – mit Tränen in den Augen. Klar, irgendwie sind wir alle traurig, vor allem aber dankbar! “I don’t ever wanna leave this town” brüllen wir gemeinsam mit den Imagine Dragons an einem der letzten Abende in unserer WG-Küche. Ich bin mir sicher, dass selten jemand diese Zeilen so sehr gefühlt hat wie wir in diesem Moment.
Und trotzdem haben wir sie mittlerweile (fast) alle verlassen – diese Stadt, in der wir so viel erleben durften, so viel fühlen durften, so frei sein durften, wie selten zuvor. Erasmus kann messy sein, überfordernd, anstrengend und irgendwie viel zu viel. Vor allem aber: bereichernd. Ich komme zurück, so viel reicher an Freund:innen und Bekannten, an Erlebnissen und Erfahrungen, an neuen Gefühlen und Gedanken. Mein Herz zerspringt nahezu vor Dankbarkeit für die vergangenen fünf Monate.

Von Lena (24): Lena ist kein nachtragender Mensch. Aber über die Unkreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung ist sie immer noch nicht ganz hinweg. Als hätte unsere Generation nicht schon genug damit zu tun, sich ständig abzuheben, muss Lena sich auch noch im Meer der Lenas behaupten. Sie fasziniert die Menschen um sich herum als Zuhörerin und Freundin. Als wissbegieriges Kind und seriöse WDRlerin. Als aufmerksame Beobachterin und politisch interessierte Journalistin.