Boys do*nt* Cry

Stärke. Stärke. Stärke. Stärke. Stärke. Stärke. Testo. Toxisch. Toxisch. Bier. Bart. Bart. Toxische Männlichkeit. Überbewertet. Falsche Vorbilder. Falscher Stolz. Adaptivität. Stereotypen. Dominanz. Ego. Körperliche Stärke. Arnold Schwarzenegger. Mut. Stolz. Stärke. Verantwortung.


Es sind 43 Stunden und 19 Minuten vergangen, seitdem ich das letzte Mal geweint habe.

Ich weine, wenn ich die Tagesthemen gucke. Ich weine, wenn ich mich in Nostalgie tränke. Ich weine, wenn ich eine süße Nachricht bekomme. Ich weine, wenn ich vermisse oder wenn ich einen alten Mann alleine in der Mensa essen sehe.

Es sind 46.240 Stunden vergangen, seitdem mein Freund zuletzt geweint hat. Das war wegen eines familiären Schicksals.

Es sind 52.560 Stunden vergangen, seitdem mein bester Freund das letzte Mal geweint hat. Er weiß nicht mehr, warum.

Es sind Stunden und Minuten vergangen, die nicht gezählt werden können, weil es keine Erinnerung an den Moment gibt, als mein Onkel zuletzt geweint hat.

Cause boys don’t Cry, das wussten auch schon The Cure.

…was jedoch ziemlich schade ist, denn emotionale Tränen enthalten Stresshormone. Und davon haben wir sowieso alle viel zu viele. Trotzdem ist ein Katharsis-Effekt, das heißt eine Art Erleichterung des Körpers, umstritten. Es lässt sich also darüber diskutieren, ob Weinen nun wirklich einen positiven Effekt auf unser Wohlbefinden hat, doch eigentlich ist das auch irrelevant. Der wesentliche Punkt ist: Männer weinen im Schnitt fast viermal weniger als Frauen. Oft sind Männer nicht in der Lage zu weinen, selbst dann, wenn sie es eigentlich wollen.

Und ich finde, wir sollten uns fragen, warum das so ist.

Ein Leon namens „Lappen“

Weiße heterosexuelle Cis-Männer können nicht diskriminiert werden. Das habe ich vor ein paar Wochen in einem Diversity Workshop gelernt. Es gibt keinen Sexismus gegen Männer. Und es gibt auch sonst keinen -ismus gegen Weiße hetero Cis-Männer. Das gilt zumindest dann, wenn Diskriminierung als eine strukturelle Benachteiligung definiert wird. 

Ich muss an Leon denken. Leon ist ein Phantasie-Name für einen Menschen, den es wirklich gibt. Leon ist hetero. Cis. Und Weiß. Leon trägt, seitdem ich denken kann, weißen Nagellack. Er begeisterte sich schon immer für Alicia Keys und verbrachte viel Zeit mit Frauen. Doch das Wichtigste, was es über Leon zu wissen gibt, ist, dass nahezu die gesamte Oberstufe der Meinung war, Leon sehe aus wie ein „Lauch“ und verhalte sich wie ein „Lappen“. Das zumindest waren die inoffiziellen Spitznamen, mit denen er im Treppenhaus gerufen wurde. Irgendwann war da eine Frau, die Leon datete. Nach ein paar Wochen machte das Gerücht die Runde, Leons Penis sei ziemlich klein. Das Mobbing, das er ertragen musste, ging allerdings nicht von Frauen aus, sondern von Männern. Männern, die sich daran erfreuten, dass nicht sie in ihren Unsicherheiten entlarvt wurden, sondern Leon. Ich weiß, dass er in dieser Zeit viel geweint hat. Aber selbstverständlich nicht in der Öffentlichkeit. Denn Männer weinen heimlich, das wusste auch schon Herbert Grönemeyer.

Ich muss also an Leon denken, wenn ich mich in eben diesem Workshop melde:

-Was ist, wenn da ein Weißer hetero Cis-Mann ist, der nicht in die klassischen Rollenzuschreibungen eines Mannes passt? Oder passen will? …Und deswegen benachteiligt oder ausgegrenzt wird? 

Die Workshopleiterin dreht sich langsam von ihrer Flipchart, guckt mich an, dann sofort zurück auf das weiße Papier, auf dem sowieso noch nichts steht.

Ja hmmmmm, sagt sie. Also das ist auf jeden Fall kein Sexismus.

 –Warum nicht?

Ein wenig zaghaft erklärt sie mir, dass das dann wohl unter „Mobbing aufgrund von Vorurteilen“ falle, nicht unter Diskriminierung. Ich frage weiter und weiter nach, möchte verstehen, warum das so ist. Mittlerweile hab ich’s kapiert. Die Theorie zumindest: Diskriminierung ist an Macht-Strukturen gebunden. Es gibt keinen Sexismus gegen Männer, so wie es keinen Rassismus gegen Weiße gibt. Natürlich gibt es Stereotype über Deutsche. Aber das ist kein Rassismus. Warum? Weil Rassismus ein Weißes Herrschaftskonzept gegenüber marginalisierten Gruppen ist. Weil Sexismus und Rassismus immer von den Privilegiertesten ausgehen und sich gegen die weniger Privilegierten richten. Absolute Kurzfassung – aber ich für meinen Teil habe es verstanden.

Trotzdem: Die Frage lässt mich nicht mehr los. Zu viele Weiße hetero Cis-Männer in meinem Umfeld, die unter den Rollenzuschreibungen der Gesellschaft leiden. Denn das ständige Sich-Behaupten-Müssen als Mann, als Starker, als Großer, Breiter und Bärtiger, als GroßPenisiger, als Mutiger und Beschützer, befeuert das eigentliche Problem: Toxische Männlichkeit.

Smash the fucking patriarchy!

Toxische Männlichkeit „beschreibt Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen, die […] an die traditionelle Männerrolle gekoppelt und eng mit patriarchalen Strukturen und hegemonialer Männlichkeit verknüpft sind und mit denen Jungen und Männer anderen und/oder sich selbst […] schaden.“ So definiert der deutsche Pädagoge Sebastian Tippe das Phänomen.

Diese Definition sei per se nicht falsch, reiche aber nicht aus, kommt es von verschiedenen Stimmen aus der Geschlechterforschung. Die Kritik: Tippe vermittele in seinem Buch ein Wenig den Eindruck, toxische Männlichkeit sei ein REIN individuelles Problem des einzelnen Mannes, das nur durch Sozialisation entstanden und somit auch durch genug Selbstreflexion besiegt werden könne.

Natürlich ist das Problem viel größer. Wir müssen gesellschaftliche, historische und länderspezifische Hintergründe mitdenken, denn toxische Männlichkeit ist ein Symptom unseres gesamten Systems: des Kapitalismus, des Kolonialismus… in kurz: des Patriarchats! Und von genau diesem System profitieren Männer nun einmal – allen voran Weiße hetero Cis-Männer. This is a man’s world!, das wusste auch schon James Brown.

Patriarchale Strukturen bedingen gewisse gesellschaftliche Normen und kulturelle Traditionen. Das heißt in unserem Kulturkreis zum Beispiel: der Mann als Hauptversorger, die Frau als gebende Mutter und Hausfrau. Diese Normen wiederum prägen die Erziehung und Sozialisation eines Lebewesens. Hier müssen wir beispielsweise von problematischen Vorbildern sprechen, die ebendiese stereotype Ideale nach außen tragen. Das kann mit den Aggressionen des Vaters beginnen, durch das autoritäre Verhalten des Lehrers weitergetragen werden und in der Verehrung von Berühmtheiten münden: Stars, Filmfiguren oder Politiker:innen in etwa, die problematische Glaubenssätze vermitteln, bzw. verkörpern (Donald Trump, Chris Brown, Björn Höcke etc.). Nur ein klitzekleiner Vorgeschmack alla Höcke: „Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken. Denn nur, wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft.“

Ja, es ist zum Heulen, aber es nicht ganz aussichtslos. Viele dieser Dinge könnten wir (rein theoretisch) mühsam und im Einzelnen verändern. Besser gesagt: Einiges ändert sich bereits! Kinderserien werden diverser, das heteronormative Familienbild wird langsam aber sicher hinterfragt, patriarchal geprägte Schul- und Arbeitshierarchien werden aufgebrochen, Social Media-Aufklärung ist auf Höchsttouren und Therapeut:innen sind ausgebuchter denn je. 

Fragen wir uns aber Wie erreichen wir tiefgreifenden und strukturellen Wandel? dann ist die einzige Lösung: Smash the fucking patriarchy!

Männlichkeit abschaffen? Toxik bekämpfen!

Halten wir also fest: Männer erhalten Privilegien im Patriarchat, die alle anderen Geschlechter nicht genießen. Trotzdem leiden sowohl die Menschen, die mit toxischer Männlichkeit in Berührung kommen als auch Männer selbst unter den unangenehmen Auswucherungen dieses Phänomens. Da ich leider keine Ahnung habe, wie ich dieses fucking Patriarchat stürzen kann, bleibt für mich also die elementare Frage: (Wie) kann ich dazu beitragen, toxische Männlichkeit zu bekämpfen?

Die ersten Zeilen dieses Textes – das sind die ersten Dinge, die Männern in meinem Umfeld in den Sinn kommen, wenn sie an Männlichkeit denken. „Überbewertet. Falsche Vorbilder. Falscher Stolz. Toxisch. Dominanz. Ego.“ Der Fokus ist klar: Männlichkeit impliziert meist negative Eigenschaften. Das Destruktive zu benennen ist wichtig. Keine Frage. Aber was passiert danach? Sackgasse? Die Frage lässt mich nicht los: Hilft uns dieses kategorische Festbeißen auf das Negative dabei, die toxischen Teile aus der Männlichkeit zu verbannen? Das sollte immerhin das eigentliche Ziel sein, oder? Und genau das kann, meiner Meinung nach, mit Heilung funktionieren, und eben nicht nur mit Anklage.

Jetzt gibt es Stimmen aus der Geschlechterforschung, die die Abschaffung der Männlichkeit als einzig möglichen Ausweg aus dieser Misere sehen. Das Argument: Die eigene Überlegenheit und somit die Abwertung aller anderen Geschlechter sei „eine Grundbedingung von Männlichkeit und genau der Grund, warum es keine ‚gute“ Männlichkeit geben kann.“

Ich sehe das anders. Ich glaube Männlichkeit abzuschaffen, ist eine realitätsferne und ohnehin nicht zielführende Idee einer Akademiker:innen-Blase, die ein bisschen vergessen hat, dass die Welt nicht nur Theorie ist. Zumal die Perspektive von Trans-Männern dabei komplett außer Acht gelassen wird, denn genau die sind es, die vieles auf sich nehmen, um sich vollends mit dem Mann-Sein identifizieren zu können.

Nein, ich denke, wir müssen Männlichkeit umdenken. Zu viele Menschen klammern sich nun mal an dieses Konstrukt, was man nun davon halten mag, sei dahingestellt. Es ist unsere Wirklichkeit und die gilt es zu verändern. Männlichkeit ist nicht angeboren, sie wurde erlernt. Also kann man Männlichkeit auch neu erlernen. Damit ist das Patriarchat zwar noch nicht gestürzt, aber – in dieser Hinsicht bin ich also ganz bei Sebastian Tippe – irgendwo müssen wir beginnen.

Let’s talk about: Positive Männlichkeit?!

Weitere Begriffe aus den ersten Zeilen dieses Textes: Stärke. Stolz. Mut. Verantwortung. Wenn ich an eine Frau mit diesen Attributen denke, sehe ich Aktivismus, Zusammenhalt, Intelligenz, Empowerment, gute Entscheidungen. Denke ich dabei an einen Mann, tauchen da plötzlich ganz andere Assoziationen auf: Unterdrückung, Überheblichkeit, Ungerechtigkeit, Gewalt. Oder Gedanken daran, dass „Stärke“ nicht bedeuten muss, Bäume auszureißen, sondern, dass es auch stark sein kann, zu weinen. Dass „Stolz“ nicht bedeuten muss, immer Recht zu haben, sondern, dass man vielleicht noch stolzer darauf sein kann, den eigenen Stolz herunterzuschlucken – und selbst Hilfe anzunehmen. Dass „Mut“ nicht bedeuten muss, keine Angst zu haben, sondern Angst zuzugeben. Vielleicht ist es genau das, was wir unseren Söhnen und Schülern, unseren Freunden und Partnern, unseren Kommilitonen und Kollegen, unseren Vätern und Großvätern vermitteln sollten? Denn oft sind Männer schwach im Schwäche zeigen, […] [& wollen] fast jedem was beweisen, das wusste auch schon Sido.

Eine Freundin hat mich mal gefragt: Was ist eigentlich positive Männlichkeit? Männliche Eigenschaften, die in dieser Gesellschaft als richtig gut angesehen werden – gibt es die überhaupt? Ich glaube die Antwort ist Ja. Wenn ich an Leon zurückdenke, habe ich einen authentischen, mutigen und vor allem wahnsinnig starken Mann vor Augen, der keinerlei Überheblichkeit ausstrahlt. Also ja – ich denke wir alle – wir Alle müssen endlich darüber reden, was positive Männlichkeit eigentlich ist!

Was ich dabei nicht sagen will: Dass wir die Gefahren, die toxische Männlichkeit mit sich bringt, verschweigen, geschweige denn unterschätzen dürfen. Leon soll nicht für #NotAllMen stehen.

Was ich aber sagen will: Wir müssen über eine Alternative nachdenken, die Leon und alle anderen Männer, die nicht in heteronormative Strukturen gepresst werden möchten, miteinschließt. Wir als Gesellschaft sollten anerkennen, dass Leons Unsicherheiten und Ängste zu einer Lösung beitragen können. Und dafür muss ein Raum geschaffen werden, in dem er über genau diese sprechen kann.

Wir müssen weiterhin aufschreien gegen Ungerechtigkeiten. So laut wir können, immer und immer wieder. Aber nicht nur; gleichzeitig müssen wir Gegenvorschläge, neue Ideen und positive Vorstellungen sichtbar machen. Ich möchte einen Diskurs, einen gesamtgesellschaftlichen Austausch, der Männern einen Tunnel durch diese verdammte Sackgasse baut: „Hier kannst du langgehen, du musst nicht stehenbleiben.“ Das heißt aber auch, dass wir weißen hetero Cis-Männern eine Möglichkeit geben, aus der Rolle des Feindes herauszukommen. Ally werden? Hetero Cis-Mann bleiben zu können. Aber eben nicht mehr toxisch. Verdammt nochmal weinen zu können, Angst zu verbalisieren, Erektions-Probleme zu haben, androgyn zu sein, sensibel zu sein. Und sich trotzdem, ja gerade deshalb, als „männlich“ identifizieren zu können.

Wie?

In Diversity-Workshops wird oft jede Person im Raum dazu angehalten, sich eine eigene Erfahrung präsent zu machen, in der sie Ausgrenzung erlebt hat. Nicht jede Person kann einen -ismus verstehen, aber jede:r kann zu dem Gefühl relaten, ausgeschlossen zu sein. Sich nicht zugehörig zu fühlen. Scham zu verspüren. Und mit dieser Basis macht man weiter. Es ist der Versuch, Menschen auf eine Empathie-Ebene zu bringen. Denn sobald eine Person in ihren eigenen Gefühlen ernst genommen wird, öffnet sie sich auf einer viel ehrlicheren Basis auch den Problemen anderer.

Ich habe mich dazu entschlossen genau diesen Weg zu gehen. Ich möchte versuchen auch Leons Blickwinkel zu sehen, versuchen zu verstehen, dass toxische Männlichkeit in Rollenzuschreibungen keimt und durch Unsicherheiten heranwächst. Dass Männlichkeit nicht per se „böse“ ist. Ich möchte anerkennen, dass es eben auch wehtun kann, in männliche heteronormative Strukturen gepresst zu werden. Ich möchte mir Gedanken darüber machen, wo der Tunnel endet und wie dieser Ort der positiven Männlichkeit wohl aussieht. Ich möchte andere dazu anregen, dasselbe zu tun. Und auch wenn es nicht meine Aufgabe ist, sehe ich mich trotzdem in der Rolle, den Männern, die ich liebe, zu erklären, wie die Welt aus meinen Augen aussieht. Wie sich Sexismus anfühlt. Warum Feminismus wichtig ist. Und was dabei herauskommt ist wunderschön: Ein buntes Sammelsurium aus neuen Sichtweisen und Zugängen.

Unter keinen Umständen möchte ich damit alle Frauen in die Verantwortung ziehen, diese Aufklärungsarbeit zu leisten, diese nervenzerrenden Diskussionen zu führen, dieses Verständnis für toxische Männer aufzubringen. Es ist nicht unsere Aufgabe die Gesellschaft von Toxik zu befreien. Aber für mich ist es der Versuch, der sich gerade am aller sinnvollsten anfühlt.


Der Beitrag wurde am 28.04.2023 überarbeitet und um theoretisches Fachwissen aus der Geschlechterforschung ergänzt.


© Titelbild made by Marcos Guinoza. Instagram: marcosguinoza


Von Lilly (26): Lilly ist Fan von arabischem Kaffee und ein absoluter Gefühlsmensch, der unglaublich viel Liebe und Empathie für seine Mitmenschen aufbringen kann. Dass so viel Empfindsamkeit auch ziemlich anstrengend sein kann, davon erzählt sie in ihren Texten – die oft von Liebe, Gefühlen und Zwischenmenschlichem handeln. Oder von der großen, weiten Welt, von der sie nicht genug bekommen kann. Lilly ist eine weiße hetero Cis-Frau.

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