heut mal wieder Gänsehaut

Als meine beste Freundin und ich noch Kinder waren, haben wir oft davon gesprochen, dass wir irgendwie so eine „komische Angst vor der Welt haben“, oder dass wir Bauchkribbeln haben und nicht im geringsten wissen warum. Ich kann mich nicht erinnern um was es dabei ging, aber anscheinend haben wir uns selbst, die Welt und alles was dazwischen lag, schon mit 10 Jahren ziemlich intensiv wahrgenommen. Ich würde jetzt gerne sagen, dass ich meine Gefühle heute sehr viel besser unter Kontrolle habe, aber eigentlich stimmt das gar nicht. Auch heute kommen und gehen sie meistens, wann sie wollen. Manche als ungebetene Gäste und manche als riesengroßes Geschenk.


Ich stehe in einer Menschenmenge im Palladium, tanze zu Melancholy Hill und die Stimmung der Halle lässt mich schweben. Irgendwann tippt mich eine Person an. „Entschuldigen Sie?“ Eine blonde Mitt-50erin streckt den Kopf an mir vorbei, zeigt auf ein Mädchen und brüllt mir zu: „Das ist meine Tochter! Wissen Sie?“ In Anbetracht der Tatsache, dass es kaum etwas gibt, was ich so sehr hasse, wie gesiezt zu werden, bin ich ziemlich schnell genervt und denke nur: „Na und?“ Ich lächle nett zurück und wende mich mit einem „Hübsch“ wieder ab. Die besorgte Mutter verschwindet wieder hinter meinem Rücken. 10 Minuten später wieder ein Tippen. Diesmal schiebt sie sich gleich ganz an mir vorbei, tanzt, kreist und singt sich ihren Weg zu der Tochter, deren Blick nichts anderes als null Bock ausstrahlt. Ich versinke in der Anspannung beider. Versteht mich nicht falsch. Ich bin gerne auf Konzerten mit Boomer:innen. Ich war mit meiner eigenen Mama schon auf tausenden Konzerten. Aber in diesem Moment zieht sich einfach alles in mir zusammen. Die genervte Tochter starrt wie versteinert nach vorne, ignoriert die grinsende und verzweifelt tanzende Mutter zu ihrer Linken. Und ich? Sterbe vor Mitleid mit beiden. 

Ich stehe also mitten auf einem fucking Gorillaz-Konzert und mein komischer Kopf hat nichts Besseres zu tun, als 10 Minuten diese Mutter-Tochter-Dynamik zu durchdringen und komische Schwingungen von einer 15-Jährigen zu empfangen, die noch nicht checkt, wie cool es ist, eine Mutter zu haben, die mit dir zu Damon Albarn abdanced. Szenerien wie diese kann ich nicht einfach nur angucken und mich darüber amüsieren. Nein, ich fange instant an, die unangenehmen Feelings dieser Menschen in mir aufzusaugen. Die Rolle des Stimmungsschwamms kannte ich bis dato eigentlich immer nur von Situationen mit meinen Freund:innen und mir nahestehenden Personen. In letzter Zeit ufert das aber anscheinend aus und begegnet mir auch immer wieder bei Fremden.

Sipsitting seit ich denken kann

Ich war schon mit 16 immer die, die allen den Rücken gestreichelt hat, während sie vor dem Club in irgendwelche Büsche gekotzt haben. Die, die mit heulenden Menschen auf irgendwelchen Bürgersteigen saß und sich stundenlang besoffene Lebensdramen angehört hat. Die, die im Raucherbereich notwendige Kuschelorgien veranlasst hat, bis alle wieder klarkamen. 

Diese Angewohnheit ist mir bis heute geblieben, sie ist nur viel intensiver geworden. Ich bin nicht gut darin, Gastgeberin zu sein, weil ich mir 24/7 Gedanken mache, ob‘s allen gut geht. Ich bin eine absolute Ober-Helikopter-Mom, wenn Leute, die sonst nie kiffen, plötzlich auf die Idee kommen, an einem Joint ziehen zu wollen. Nein wirklich – ich bin instant paranoid, beobachte jeden Zug und frage 34 Mal, ob auch sicher noch alles okay ist. Bei Filmen habe ich ehrliches Mitleid mit den größten Arschlöchern, ja sogar mit Mörder:innen, wenn sie dann irgendwann total am Boden sind. Und wenn ich in einen Raum komme, in dem eine mir nahestehende Person weint, muss ich in bestimmt 78% der Fälle auch weinen.

Zwischen Freudscher Hysterie und Coolness 

All das sind Dinge, die ich nie so richtig in eine Schublade gesteckt habe. Vor ein paar Monaten habe ich dann erfahren, dass es aber tatsächlich einen Begriff dafür gibt: Hochsensibilität (oder noch besser Hypersensibilität) – Ein Wort, das ich zwar verstehe, gleichzeitig aber ganz schrecklich finde. Einerseits denke ich an eine sehr weiblich und sehr negativ konnotierte Form von „übertriebener Gefühlsdusselei“ allá Freudsche Hysterie. In einer komplett anderen Lesart klingt es fast schon wieder so cool, dass man glatt damit angeben könnte aka „Ich bin voll der nette Kerl, ich bin btw auch hochsensibel“.

Keine Ahnung, ob hier irgendjemand nachvollziehen kann, was ich meine. Aber Tatsache ist, dass weder das hysterische Sensibelchen noch der*die obercute Empath:in implizieren, wie fucking anstrengend das manchmal sein kann. Eine meiner tollen Freundinnen hat mal gesagt, mir fehle einfach ein Filter, der in einer so reizüberfluteten Welt aber wichtig ist. Ein Mechanismus, um wichtig von unwichtig zu filtern. Um „Geht mich etwas an“ von „Hat mich nicht zu interessieren“ und „das Glück anderer“ von „mein eigenes Wohlbefinden“ zu trennen. 

Ich habe auch herausgefunden, dass Hochsensibilität keine Krankheit und auch keine Störung ist, sondern einfach nur ein Persönlichkeitsmerkmal, das ca. 20-30% der Menschheit hat. Im Spektrum, versteht sich. Außerdem: „Wer hochsensibel ist, nimmt Reize intensiver und differenzierter wahr. […] Auch innere Reize werden intensiver wahrgenommen. Das, was man denkt, fühlt und erlebt, hallt intensiver und länger nach.“

Alles muss intense sein 

Trotzdem ist das für mich mehr Segen als Fluch. Ich mag es, die Gefühle anderer zu verstehen und miterleben zu können. Ich liebe Intensität in jeder ihrer Formen. Ich liebe Kicks. Ich liebe Situationen, die mich viel fühlen lassen. Ich weiß, dass ich Dinge extrem intensiv wahrnehmen kann – Musik in meinen Ohren – Sand unter meinen Füßen – Gefühle von Einsamkeit – juckende Strumpfhosen – kuschelige Abendessen mit meinem Freund – Kardamom-Kaffee-Geruch am Morgen – Körpernähe – Zug-Melancholie – stressige Töne – Vermissen – Stimmungen von Lina – schönes Licht – grelles Licht – Katerglücksgefühle – Katerdepressionen – Freundschaft – Schnelligkeit – Nervenkitzel – Leichtigkeit.  

Ich kriege immer kurz Panik, wenn ich mal nicht so viel fühle. Wenn ein Trott eintritt, viel Monotonie, Gleichgültigkeit, weder gute noch schlechte Emotionen. Ich glaube, dann fühle ich mich unvollständig. Letzten Urlaub dachte ich kurz, ich sei krank, weil ich beim Sonnenuntergang am Meer saß, King Krules Octopus in meine Ohren strömte und der Himmel vor, neben und hinter mir in einem Farbenmeer explodierte. Und ich? Hab einfach kaum was gefühlt. Keine Gänsehaut, kein intensives Lebendigkeitsgefühl, keine schönen Gedanken in meinem Kopf, kein wärmendes Gefühl in meinem Bauch, kein vor mich Hinlächeln – das war mir so fremd, dass ich mir gleich selbst fremd vorkam. 

„Haben Sie sich denn schlecht gefühlt in diesem Moment?“, fragte mich meine Therapeutin mal – „Mhhm, nee“ – „Also Sie haben sich trotzdem wohlgefühlt?“ – „Ja, denke schon“, sage ich. Sie will wissen, ob ich nicht auch der Meinung sei, dass es meinem Körper ganz gut tun könnte, einfach mal durchschnittlich viel zu denken und zu fühlen. Dass ich mich doch nicht nur damit identifizieren müsse. Nicht nur ich habe eine Auszeit gebraucht, sondern wohl auch mein Herz und mein Kopf. Was für ein Mist, dachte ich mir nur, mein Herz soll nicht Urlaub machen, wenn ich gerade am Meer sitze, in der Sonne liege oder in die Nacht tanze. Verdammt nochmal, dann brauche ich Euch doch am meisten, ihr wunderschönen intensiven Gefühle. 

Viel später habe ich mich gefragt, ob das überhaupt noch etwas mit Hochsensibilität zu tun hat. Oder ob das bei mir nicht längst irgendeine Sucht ist, nach Extremgefühlen, nach Mich-lebendig-fühlen, zwanghafte Flucht aus der Monotonie? Vielleicht auch einfach nur mein Persönlichkeitstyp? Ob diese ständige Überstimulation nun gesund ist oder nicht, normal ist oder nicht – keine Ahnung – ist mir aber auch egal. Ich will weiterhin viel träumen, viel denken, viel fühlen, nur definitiv ein bisschen weniger für andere.


© Titelbild made by Slinga. Instagram: slingaillustration


Von Lilly (25): Lilly ist Fan von jordanischem Kaffee und ein absoluter Gefühlsmensch, der unglaublich viel Liebe und Empathie für seine Mitmenschen aufbringen kann. Dass so viel Empfindsamkeit auch ziemlich anstrengend sein kann, davon erzählt sie in ihren Texten – die oft von Liebe, Gefühlen und Zwischenmenschlichem handeln. Oder von der großen, weiten Welt, von der sie nicht genug bekommen kann.

1 Kommentar

  1. Hochsensible Menschen neigen häufig zum emotionalen Tourismus.
    Jeder lebt in seiner Welt, manch einer sieht deins als seins.

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