Ich habe vor kurzem ein paar Tage in meinem Heimatdorf verbracht, habe mich mal wieder richtig bemuttern lassen, alte Freundschaften gepflegt und alle Verantwortung für ein paar Momente von mir weggeschoben. Es hat gut getan unter den Personen zu sein, die mich am längsten kennen und denen es so leicht fällt, mich zu verstehen. Aber zu diesem wohlig-kuscheligen Gefühl hat sich dieses Mal immer wieder noch etwas anderes gemischt.
Wenn ich mich dann so in der Heimat aufhalte – im alten Café mit meinen besten Freundinnen, auf einem Spaziergang durch die Dämmerung in unserem Heimatdorf mit meinen Geschwistern oder nach ein paar Gläsern Lillet in der einzigen Bar, in die man in der nächsten Kleinstadt wirklich gehen kann – fühle ich mich manchmal wie erschlagen. Erschlagen von so viel Veränderung. Es fühlt sich an, als würde sich die Welt von allen anderen auf einmal ein bisschen zu schnell drehen – während meine scheinbar nur im Schneckentempo unterwegs ist.
Dabei ist objektiv betrachtet eher das Gegenteil der Fall: Ich bin aus- und einige Male umgezogen, habe meinen Bachelorabschluss gemacht und einen ganzen Haufen neuer Leute kennengelernt. Es ist etwas passiert in meinem Leben, ich bin vorangekommen. Offensichtlich! Oder nur scheinbar?
Positive Entwicklungen mit negativen Gefühlen
Ich glaube, wenn ich vom „Steckenbleiben“ spreche, geht es dabei vor allem um meine Gefühlswelt. Innerlich fühle ich mich nämlich immer noch manchmal als wäre ich 16, im besten Fall 18 Jahre alt – vor allem, wenn ich wieder ein paar Tage oder Wochen in der Heimat verbringe. Und ich sehne mich manchmal nach diesem Leben zurück. Nicht, weil mein Leben damals so viel besser gewesen wäre als jetzt. Aber hin und wieder überrollt mich mich eine Nostalgie-Welle. Dann ist es schwer nachvollziehbar, dass meine Schwester plötzlich mit ihrem zweiten Kind schwanger ist. Oder, dass meine älteste Kindergartenfreundin aus dem Zimmer in ihrem Elternhaus ausgezogen ist und nun in ihrer eigenen Wohnung in der nächstgrößeren Stadt lebt. Oder, dass alle um mich herum in ernsthaften, wirklich erwachsenen Beziehungen sind. Sogar die, die sich eine solche Beziehung vielleicht irgendwann mal mit mir hätten gut vorstellen können.
Eigentlich sind all das positive Entwicklungen. Ich freue mich aus vollem Herzen für meine Schwester, meine Kindergartenfreundin und auch für den einen Mann, der jetzt eben nicht mit mir in einer Beziehung ist .

Aber hin und wieder ist da diese kleine, nervige Stimme in meinem Hinterkopf, die schreit “Wie können sie nur?” Wie können sie mir die Illusion nehmen, dass ich dort, wo ich aufgewachsen bin, immer noch 18 oder auch 16 sein darf. Dass ich die Kleine in meiner Familie sein darf, das Nesthäkchen, um das sich alle immer irgendwie kümmern. Dass ich mich mit meinen Mädels immer in den gleichen, winzigen Kinderzimmern treffen werde, die Wände tapeziert mit den schrecklichen Bildern von einem Fotoshooting unserer 14-jährigen Ichs und wir alles mit den anderen teilen können. Dass ich dort die Verantwortung, vor der ich bei meinen Heimatbesuchen zu fliehen versuche, auch wirklich hinter mir lassen kann.
Nostalgisches Schubladendenken
Offensichtlich messe ich hier mit zweierlei Maß. Während ich die Entwicklung in meinem eigenen Leben auf keinen Fall missen wollen würde und hoffe, dass da noch ein ganzer Berg an positiver Veränderung auf mich wartet, stört mich jede Veränderung bei den Personen „von zuhause“ zuerst einmal. Klar, ich soll mich verändern dürfen! Aber daheim will ich dann doch die gleichen alten Umstände vorfinden und genau dasselbe Leben führen können, wie vor fünf, sechs, sieben Jahren.
Ich weiß, dass ich ein sehr nostalgischer Mensch bin. Ich habe Schubladen voller Erinnerungsstücke, die ich teilweise selbst nicht mehr der richtigen Phase in meinem Leben zuordnen kann. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Tagebücher und Seiten aus Collegeblöcken, in denen ich Momente festgehalten habe, von denen ich mich niemals trennen möchte. Und auch heute fülle ich Seite um Seite mit Erlebnissen, die eben gerade erst passiert sind.
Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann mit einer ähnlichen Nostalgie darauf zurückblicken werde, wie jetzt auf die Zeit als ich 16 war. Auch wenn es sich anfühlt, als wären alle Welten um mich herum bis dahin endlose Male an mir vorbeigezogen.

Von Lena (23): Lena ist kein nachtragender Mensch. Aber über die Unkreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung ist sie immer noch nicht ganz hinweg. Als hätte unsere Generation nicht schon genug damit zu tun, sich ständig abzuheben, muss Lena sich auch noch im Meer der Lenas behaupten. Sie fasziniert die Menschen um sich herum als Zuhörerin und Freundin. Als wissbegieriges Kind und seriöse WDRlerin. Als aufmerksame Beobachterin und politisch interessierte Journalistin.
Liebe Lena, was für ein toller, reflektierter Text. Vielleicht kann ich dazu ein bisschen Input liefern, denn ich bin eine von denen, die mehr oder weniger Zuhause geblieben sind. Okay, ich bin in die nächste Kleinstadt gezogen, ich pendele zu meinem coolen Job in der Großstadt – aber wann immer die weggezogenen Freundinnen von früher mal nach Hause kommen, fühle ich mich so, als ob ich den Absprung nicht geschafft hätte. So ein bisschen die Uncoole, die sich entschieden hat, in der Nähe ihrer Familie bleiben zu wollen. Du als „Weggezogene“ weißt vielleicht gar nicht, wie sehr viele andere dich bewundern. Und sich manchmal wünschen, sie wären auch gegangen. Aber zugleich ist hier Fingerspitzengefühl gefragt. Denn den großen Bruch zu machen und ganz wegzuziehen kann mitunter einfacher sein, als das alte Leben und die Veränderungen, die darin passieren, weiter auszuhalten. Deshalb beim nächsten Mal am besten den Veränderungen positiv begegnen und loben, dass die Welt sich daheim auch weiterdreht. 🙂
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Liebe Anna, danke dir noch für die lieben Worte! Du hast natürlich recht. Es hat auf jeden Fall auch Vorteile, weggezogen zu sein und die Veränderungen, die sich zu Hause so abspielen aus der Distanz beobachten zu können. Und ich fand es sehr spannend, deine Perspektive auf das Ganze kennenzulernen. 🙂
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