Imposter, Komfortzonen & gefüllte Riesentomaten

„Du bist eine HOCHSTAPLERIN“, ruft mir mein innerer Parasit regelmäßig in Erinnerung. „Bald fliegst du auf…bald wissen alle, dass du eigentlich gar nichts weißt“, brüllt er mich an. Parasiten dieser Gattung saugen das Selbstbewusstsein aus dem Körper ihres Wirtes. Das, was sie hinterlassen, nennt man Imposter-Syndrom. Zum Glück habe ich Menschen in meinem Leben, die diesen Parasiten in mir nicht hören können, egal wie laut er schreit. Dank der Hilfe dieser Menschen weiß ich seinen Zorn nämlich mittlerweile zu bändigen.


Selbst wenn ich als klavierspielender Mozart auf die Welt gekommen wäre,

selbst wenn ich bereits seit 20 Jahren mit demselben Schnittprogramm arbeiten würde, 

und selbst wenn Italienisch meine zweite Muttersprache wäre, 

würde ich mich vermutlich nicht trauen, 

irgendeine meiner Kenntnisse im Lebenslauf als „fortgeschritten“ einzustufen. 

Außerdem wäre ich wahrscheinlich lieber arbeitslos, als bei einem Bewerbungsgespräch zu lügen. Ich würde niemals auf die Idee kommen, einen höheren Lohn für einen Job zu verlangen, sei er auch noch so unterbezahlt. Und eventuell trichtere ich den Menschen in meinem Arbeitsumfeld hin und wieder ein, eine andere Person sei doch viel geeigneter für eine wichtige Aufgabe, als ich es bin. Manchmal denke ich, die Leute müssen doch völlig verrückt sein, wenn sie mir dann trotzdem ein wichtiges Projekt anvertrauen. Wenn ich positives Feedback bekomme oder sogar einen richtigen Erfolg erlebe, dann denke ich nur „Ach ja, mal wieder Glück gehabt.“ Muss Zufall gewesen sein, dass ich das so gerockt habe. Passende Umstände, die Hilfe anderer… oder vielleicht auch einfach der Wille Gottes, …an den ich eigentlich überhaupt nicht glaube. 

Heimtückische Hochstaplerei

Warum ich mir so einen Bullshit einrede? Weil ich in meinen Augen eine klassische „Hochstaplerin“ (engl. imposter) bin und ich befürchte, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis alle in meinem Umfeld merken, dass ich eigentlich gar nichts kann. „Spätestens beim nächsten Projekt fliege ich auf“, denke ich heute manchmal immer noch. 

Das kommt dir irgendwie bekannt vor? Wenn auch in abgeschwächter Form? Herzlichen Glückwunsch, auch du bist Opfer dieses boshaften Parasiten, der das sogenannte Imposter-Syndrom verursacht. Du, ich und ca. 70% der Menschheit sind schon einmal mit ihm in Berührung gekommen. Besonders junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Mehrheitlich Frauen (Überraschung!). Das Imposter-Syndrom ist außerdem keine Krankheit und auch keine Störung, sondern einfach nur ein psychologisches Phänomen, eine Art Reaktion unseres Körpers auf externe Reize und Ereignisse, wie in etwa auf strukturelle Benachteiligung als Frau (z.B. weniger Lohn als männliche Arbeitskolleg*innen oder Versagensängste davor, Kinder und Karriere nicht vereinen zu können). 

Eigentlich ergibt das Imposter-Syndrom aber auch jede Menge Sinn: Je mehr du weißt, desto mehr kapierst du auch, wie viele Dinge es gibt, die du eben nicht weißt und kannst. Das heißt: Als Kinder denken wir noch, wir sind unbesiegbar und auf jeden Fall schlauer als unsere Eltern. Wir sind stolz auf alles, was wir wissen und sind überzeugt, wir könnten eigentlich auch jetzt schon Bundeskanzler*in werden. Je älter wir werden, desto mehr lernen wir über diese komische Welt. Auf dieser Reise prasseln aber auch unendlich viele Infos auf uns ein, die uns zu komplex erscheinen, die wir einfach nicht verstehen. Anstatt sicherer mit uns und unserem Wissen zu werden, gucken wir dann immer häufiger zu dem Haufen hinüber, auf den wir die „Das weiß ich nicht“-Brocken geworfen haben. Und genau aus diesem Stapel kriecht dann am Ende der glitschige Imposter-Parasit mit der grässlich lauten Stimme, der langsam aber sicher an unserem Selbstbewusstsein saugt. 

Lob annehmen can be sweet

Ich persönlich habe mittlerweile einige Schutzschilder, die mir geholfen haben, diese unangenehme Stimme zum Flüstern zu bringen. Zum einen habe ich unglaubliche Menschen in meinem Leben, die meine Stärken sehen, die an mich glauben und mir das auch immer wieder sagen. Und ich habe das große Glück, ein Arbeitsumfeld zu haben, in dem Feedback-Kultur kein Fremdwort ist. 

Nach veröffentlichten Texten oder (erfolgreich) abgeschlossenen Projekten habe ich im Nachhinein meist daran gedacht, was ich besser hätte machen können. Oder was andere besser gemacht hätten. Erst als ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben sich einmal die Zeit genommen hat, meine Arbeitsweise zu analysieren, habe ich endlich aufgehört, an mir selbst zu zweifeln. Weil dieser jemand mir nämlich ganz ausführlich erklärt hat, was ich kann, was meine Arbeit besonders macht und warum er*sie so gerne mit mir zusammenarbeitet.

Und wisst ihr, warum es dieser Mensch geschafft hat, mich nach so langer Zeit davon zu überzeugen, dass ich gut bin, wie ich bin? Weil er mir vermittelt hat, dass ich nicht nur nach Wissen und Leistung bewertet werde, sondern auch nach Authentizität, nach Begeisterung und Hingabe, danach wie ich mein Team behandle und danach, welche Stimmung ich mit in ein Projekt bringe. 

An dieser Stelle also ein durchaus ernstgemeinter Tipp von einer durchaus ernstzunehmenden Frau, die sich mittlerweile sogar traut, sich für Jobs zu bewerben, die über Praktika hinausgehen:

Such dir einen Ort, an dem du verdammt nochmal gesehen wirst!!!

Raus aus der Komfortzone

Ich habe die Fähigkeit, mich außergewöhnlich häufig und außergewöhnlich stark in Situationen hinein zu begeben, die allem anderen als meiner Komfortzone entsprechen. Und das habe ich meiner Impulsivität zu verdanken. Denn meistens denke ich nicht lange über „wichtige“ Entscheidungen nach. Ich bin kein Pro-Contra-Listen-Mensch, ich bin ein Bauchgefühlsmensch. Und genau damit verarsche ich meinen inneren Parasiten immer und immer wieder.  

Das kann man sich ungefähr so vorstellen: Meistens beginnt es mit einem Gedanken oder einer Idee, die mir in den Kopf schießt. Wenn mir diese Idee gefällt, dann fange ich an, mich in sie hineinzusteigern – solange bis mich ein Motivationsschub überrollt und ich total begeistert irgendwelche Sachen plane oder ausführe. Mit Energieschüben wie diesen sage ich dann zum Beispiel Verabredungen zu, für die ich eigentlich zu schüchtern bin, plane irgendwelche Projekte, die ich mir eigentlich gar nicht zutraue, verabrede mich mit irgendwelchen Aktivist*innen zu Ausflügen, die eigentlich zu gefährlich sind, kündige Jobs, buche Flüge, schiebe Unikurse, melde mich für Sportkurse an und schreibe Nachrichten, die viel zu ehrlich sind. All das, ohne groß darüber nachzudenken. 

Man könnte jetzt annehmen, dass mir das des Öfteren zum Verhängnis wird, aber nee. Eigentlich sind es genau diese Momente des Mutes, die mich dazu bringen, Ängste zu überwinden und über mich selbst hinauszuwachsen. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich schon mit Herzrasen und innerer Grumpyness irgendwohin stapfen musste, nur weil die energetische Seite in mir mal wieder irgendetwas ausgemacht hat. Und wisst ihr was? In neun von zehn Malen komme ich mit großem Herz und innerer Happyness wieder zurück. 

Nie realisieren wir besser, wie stark wir eigentlich sind, und wie viel mehr wir uns zutrauen sollten, als kurz nach dem Moment, in dem wir eine (noch so kleine) Herausforderung gemeistert haben. Ich habe schon lange nicht mehr so sehr in meine eigene Stärke vertraut wie momentan, weil ich mich in den letzten Monaten ständig Out-of-comfort-Situationen ausgesetzt habe. Und das gefällt meinem Imposter-Parasiten gar nicht. Denn in einem Wirt, der an sich glaubt, lebt es sich nun mal nicht so gut.

I am sorry kleiner Wurm, aber ich bin stärker :-)) 

Meistens zumindest…

Was es mit den gefüllten Riesentomaten auf sich hat

Ich hasse Tomaten. Schon immer. Ich finde Tomaten schleimig und überbewertet. Außerdem bin ich laktoseintolerant. Beides finde ich blöd. Gegen beides habe ich versucht, anzukämpfen. Beides jedoch aussichtslos. 

In meiner ersten Woche in Palästina habe ich mich in einer dieser typisch impulsiven Übersprungshandlungen mal wieder in eine Situation gebracht, auf die ich dann schon zwei Stunden später keinen Bock mehr hatte. Besser gesagt – vor der ich einfach Angst hatte. Ich habe in einem Recherche-Wahn ein Interview mit einer Theaterdirektorin angefragt, die A) anscheinend die „Allerkrasseste“ ist, B) super busy ist und C) ziemlich kühl auf meine Mail geantwortet hat (dachte dann gleich, sie mag mich nicht, lol). Außerdem: Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen blassen Schimmer von der Kulturszene Palästinas und mein letztes Live-Interview war ungefähr drei Jahre her. Worst-case-Szenario also für einen Imposter-Syndrom-Profi wie mich.

Nein, ich habe nicht in letzter Sekunde abgesagt. Mit meinem kreischenden Parasiten im Ohr habe ich mich zu dem Interview gezwungen – felsenfest davon überzeugt, dass sie mich am Ende für dumm oder unerfahren halten würde. Dort angekommen, wurde ich erst einmal – classic Palästina – zum Mittagessen in die kleine Theaterküche eingeladen. Zu meinem Entzücken gab es schleimige Riesentomaten, gefüllt mit Feta, Halloumi und einer Art Frischkäse 😊 Ob ich das gegessen habe? Selbstverständlich. Ob ich danach Bauchkrämpfe und Würgereize hatte? Selbstverständlich. 

Ich hatte einfach so einen Heidenrespekt vor dieser Frau, dass ich vermutlich auch gefüllte Ziegelsteine gegessen hätte. Und somit wurden die mit Käse gefüllten Riesentomaten zum Sinnbild meines immer noch lebenden Parasiten, der zwar noch freudig durch meinen Körper tänzelt, aber zumindest endlich aufgehört hat zu schreien. 


Von Lilly (26): Lilly ist Fan von jordanischem Kaffee und ein absoluter Gefühlsmensch, der unglaublich viel Liebe und Empathie für seine Mitmenschen aufbringen kann. Dass so viel Empfindsamkeit auch ziemlich anstrengend sein kann, davon erzählt sie in ihren Texten – die oft von Liebe, Gefühlen und Zwischenmenschlichem handeln. Oder von der großen, weiten Welt, von der sie nicht genug bekommen kann.

1 Kommentar

  1. Ich habe auch von beidem: Die Angst, als Versager und Hochstapler aufzufliegen (gehören dazu auch diese wiederkehrenden Träume, irgendwelche Schul- oder Uni-Prüfungen nochmal antreten zu müssen, völlig unvorbereitet?), aber auch Höhenflüge, genau zu wissen, was ich will und deshalb tun muss. Und stimmt, genau diesen starken Impulsen muss man folgen. Ich glaube, die echten Hochstapler leiden keineswegs am Imposter-Syndrom.
    Danke für den anregenden und bestätigenden Text, Lilly! Liebe Grüße aus Italien!

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