Ich bin mittlerweile seit vier Monaten in meinem Erasmus-Semester in Lettland. Bisher kann ich mir wirklich nicht vorwerfen, die Zeit hier nicht in vollen Zügen zu nutzen und alle Möglichkeiten, die sich mir irgendwie bieten, mitzunehmen. Manchmal bleibt dann nur ein bisschen wenig Zeit, den Haufen an neuen Eindrücken auch zu verarbeiten.
Ich habe gerade eine der besten Wochen meines bisherigen Lebens hinter mir. Vier Tage Lappland (plus zweimal über 24 Stunden Busfahren, aber das klammern wir mal aus). Egal ob Nordlichter, Baden im Arctic Ocean, komplette Stille in einer Schnee- und Eiswelt – ich komme mit so vielen Eindrücken und Erfahrungen nach Riga zurück, die alle noch darauf warten, verarbeitet zu werden. Aber dafür habe ich in den Tagen danach sicher genug Zeit.
Ein bisschen Uni habe ich dann doch am Tag, nach dem ich zurückgekommen bin. Ein bisschen Uni mit einem Test, von dem ich erst am Morgen mitbekomme und für den ich natürlich noch absolut gar nichts gemacht habe, shit. Dann wird die Lappland-Verarbeitungszeit wohl ein bisschen aufgeschoben. Erstmal den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag lernen, den Test irgendwie über die Bühne bekommen, danach kann ich mir ja irgendwas Gutes kochen und einen entspannten Abend mit mir und meinen Gedanken verbringen.
Wenn da nicht die Partys wären…
„Beerpong tournament at Puce tonight, who’s in?”. Es ist Donnerstag, der klassische Erasmus-Partyabend bei meinen Riga-Leuten. Jetzt sind wir auch alle nur noch ein paar Wochen hier. Ich habe so viele von ihnen durch den Lappland-Trip ewig nicht gesehen, das kann ich eigentlich nicht ausfallen lassen. Also gut, ab zum Beerpong und danach ab in den Club. Lappland-Verarbeitungszeit kann noch ein bisschen länger warten.
Wie üblich ist der Donnerstagabend auch wieder richtig gut. Beim Beerpong-Turnier scheide ich zwar in der ersten Runde aus, aber dafür habe ich umso mehr Zeit mich mit den Leuten zu unterhalten. Interessant, wie auch nach vier Monaten in der gleichen großen Bubble, immer noch neue Beziehungen entstehen können. Noch ein, zwei Bier mehr, noch ein, zwei fragwürdige Entscheidungen mehr und schon komme ich am nächsten Tag erst um 14 Uhr wieder zu Hause an. Erasmus kann messy sein. Lappland ist absolut nicht verarbeitet, dafür noch einen Partyabend mit ganz neuen Entwicklungen auf dem Verarbeitungshaufen.
Und dann steht schon das Wochenende an. Aber auch an diesem Wochenende ist Zeit für mich selbst kaum drin. Ich bekomme Besuch von meinen Bachelor-Mädels. Ich freue mich riesig auf sie und schätze mich so glücklich, dass sie sich die Zeit nehmen, mich zu besuchen. Es gibt endlos viel zu bequatschen. So viele Themen, die ich in Lettland eigentlich weit von mir weggeschoben habe. Wir verbringen eine richtig schöne Zeit mit unglaublich vielen neuen Eindrücken miteinander. Zeit, diese Eindrücke (on top of Lappland und messy Clubabende) zu verarbeiten – Null!
Auslandssemester = Uni??!
Während ich mit meinen Freundinnen sonntags also gemütlich in einem Café am verschneiten Meer (neuer Eindruck!) sitze, bekomme ich über eine Kommilitonin zufällig mit, dass ich bis Dienstag eine Gedichtanalyse für einen meiner Uni-Kurse abgeben muss. Ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder ob lettische Professor:innen einfach davon ausgehen, dass sie uns solche Aufgaben telepathisch mitteilen können. Ich jedenfalls bin überrascht, wenn nicht sogar gestresst. Wann auch immer ich dachte, noch Verarbeitungszeit für Lappland, Partyabende und das Wochenende mit meinen Bachelor-Mädels frei zu haben – so eine Gedichtanalyse wird mir davon auch nochmal ein bis zwei Stunden wegnehmen.
Wenn ich dann irgendwann montags, nachdem erst die Hälfte meines Arbeitstages vorbei ist, auch noch merke, dass ich mich auf einen Lettisch-Test vorbereiten sollte, eigentlich noch ein Weihnachtsmarkt-Besuch ansteht, ich mich noch um mein Hausarbeitsthema kümmern muss und noch dazu diese Woche einen uebermut-Text veröffentlichen will, entsteht so etwas, wie der Beitrag, den ihr gerade lest.
Der Wert von Erfahrungen

Wenn ich hier doch noch irgendeine message verpacken will, dann wahrscheinlich die, dass Zeiten, in denen so viel passiert, ganz schön überfordernd sein können. All die Eindrücke, die ich in den letzten vier Monaten machen durfte, könnte man locker auf vier Jahre aufteilen und es wären immer noch vier wunderbar aufregende Jahre.
Ich bin endlos dankbar dafür und schätze mich wirklich glücklich, diese Zeit erleben zu dürfen – und vor allem will ich nichts davon vergessen. Gerade deswegen habe ich manchmal Angst, dem Wert all der Erfahrungen nicht gerecht zu werden, wenn ich sie nur erlebe, mir aber kaum die Zeit nehmen kann, sie zu verarbeiten, alles revue passieren zu lassen und für mich einzuordnen. Rumheulen auf allerhöchstem Niveau, ich weiß.
Um mir jetzt vielleicht doch ein bisschen Verarbeitungszeit freizuschaufeln, lasse ich diesen Beitrag für heute mal so stehen. Vielleicht kann ich dann zumindest bald von der Erasmus-Zeit in verarbeiteter Form berichten.

Von Lena (24): Lena ist kein nachtragender Mensch. Aber über die Unkreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung ist sie immer noch nicht ganz hinweg. Als hätte unsere Generation nicht schon genug damit zu tun, sich ständig abzuheben, muss Lena sich auch noch im Meer der Lenas behaupten. Sie fasziniert die Menschen um sich herum als Zuhörerin und Freundin. Als wissbegieriges Kind und seriöse WDRlerin. Als aufmerksame Beobachterin und politisch interessierte Journalistin.