TikTok Trouble

Wir schreiben das Jahr 2020. Die ersten Frühlingstage liegen schon hinter uns, langsam wird es richtig warm. Wir alle glauben, uns an die Corona-Pandemie gewöhnt zu haben und hoffen, dass sie vielleicht sogar bald Geschichte ist (hahaha). Und so kommt es, dass ich an einem dieser schönen Frühlingstage einen Fehler begehe: Ich lade mir TikTok runter. 

Bis dato hatte ich von dieser “neuen” App nur mitbekommen, dass sie die „junge“ Generation (zu der ich jetzt wohl scheinbar nicht mehr gehöre) für sich entdeckt hat und ziemlich hypet. Und dass China wohl all unsere Daten darüber stehlen kann. Aber das machen die USA schließlich auch und ich will meine persönlichen Infos dann doch ein bisschen fair verteilen. Als Medienstudentin hatte ich natürlich auch noch die Ausrede, dass ich schon berufswegen up-to-date bleiben MUSS, wenn es um neue Medien geht. 

Also gut, dann gehöre ich jetzt also zu der Milliarde TikTok-Nutzer:innen weltweit. Die ersten Erlebnisse mit der App haben mich aber ehrlich gesagt nicht begeistert. 14-jährige Mädchen, die roboterhafte Tänze aufführen und die Daily Vlogs von mir unbekannten deutschen TikToker:innen sind nicht unbedingt der Content, der mich fesselt. Aber es war schließlich Corona – zwischenzeitlich sogar Lockdown – und ich hatte nichts Besseres zu tun als weiterzuscrollen. 

What the heck are those two doing in a tree?

Und dann fängt eben irgendwann aus dem Nichts Harry Styles an, über meinen Bildschirm zu tanzen. Kann man sich auf jeden Fall mal anschauen. Vielleicht sogar liken. Bilder von Troy und Zac in einem Weihnachtsbaum und darüber Coach Boltons Stimme „What the heck are those two doing in a tree?“. Das bringt mich sogar zum Schmunzeln. Auch liken. Katzenvideos. Unendlich viele Katzenvideos. Alle nur 15 Sekunden lang. Alle werden geliked. Und schon war ich gefangen in der TikTok-Spirale.

Ich habe herausgefunden, welche Videos in wessen Köpfen rent-free leben. Und seitdem tun es einige davon auch in meinem. Mir wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen “How I met your mother” und “Friends” öfter erklärt, als ich noch zählen könnte. Und wenn mir ein Tarot-Mädchen über ihr TikTok-Reading verspricht, dass ER auf jeden Fall der Richtige für mich ist (schließlich hat sie die Ten of Cups gezogen), dann wird das ja wohl auch so sein.  

Und manchmal lerne ich auch wirklich etwas. Vor meiner TikTok-Zeit wusste ich nicht, dass Oktopusse hin und wieder Fische einfach so aus Boshaftigkeit boxen. Aber das 15-Sekunden-TikTok dazu hat es mir bewiesen. Und auch tiefergehende Themen flackern dann immer wieder über meinen Bildschirm. So sehr ich mich als offenen und toleranten Menschen bezeichnen würde – im realen Leben habe ich nicht unbedingt Kontakt zu Personen aus jeglichen Minderheitengruppen. Wenn mir dann auf TikTok eine Inuit-Frau erklären kann, was Throat Singing für ihre Kultur bedeutet, finde ich das schon bereichernd. Und ich freue mich, wenn über mein Smartphone andere Lebensentwürfe und -umstände in meine Welt gespielt werden: Darüber, wie Throuples oder polyamore Menschen durch ihre Beziehungen navigieren, bekomme ich auf TikTok mehr mit als in meinem alltäglichen, realen Leben. Und auch wenn ich mir in keinerlei Weise vorstellen kann, wie es ist, mit einer dissoziativen Identitätsstörung zu leben, suggeriert mir die Plattform zumindest schon mal Erfahrungsberichte „aus erster Hand“ gehört zu haben.

Die große, weite TikTok-Welt

Auf TikTok kann ich so viele unterschiedliche Menschen mit so vielen unterschiedlichen Geschichten sehen. Zwar immer nur für ein paar Sekunden, aber es fühlt sich an, als würde ich in dieser Zeit wirklich etwas über sie erfahren. Ihr merkt, ich verfalle fast schon ins Schwärmen, wenn es um TikTok geht. Umso schlimmer, dass TikTok selbst gerade die Aspekte, die ich so bereichernd finde, einschränkt. Begriffe wie “schwul”, “queer” oder “Auschwitz” werden von TikTok zensiert – Kommentare, in denen diese Begriffe vorkommen gelöscht. Genau das, was ich am meisten an der Plattform schätze, soll scheinbar gar nicht auf ihr geschehen dürfen. 

Für mich hat TikTok trotzdem ein großes Potential – auf jeden Fall schärft es mein Bewusstsein für Minderheiten und andere Lebensumstände. Und auch wenn es manchmal peinlich ist, dass mir als 23-Jährige nach dem ersten Schluck Gin Tonic ein „Good Soup“ rausrutscht oder ich nur ein Augenverdrehen ernte, wenn ich meinem Mitbewohner erkläre, dass er gerade die „TikTok-Nudeln“ macht – vielleicht habe ich an diesem Spätfrühlingstag im Jahr 2020 dann sogar etwas Gutes getan.


Von Lena (23): Lena ist kein nachtragender Mensch. Aber über die Unkreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung ist sie immer noch nicht ganz hinweg. Als hätte unsere Generation nicht schon genug damit zu tun, sich ständig abzuheben, muss Lena sich auch noch im Meer der Lenas behaupten. Sie fasziniert die Menschen um sich herum als Zuhörerin und Freundin. Als wissbegieriges Kind und seriöse WDRlerin. Als aufmerksame Beobachterin und politisch interessierte Journalistin.

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