Schreib mir, wenn du zuhause bist

Angst oder doch zumindest Unbehagen auf dem nächtlichen Nachhauseweg gehört für uns Frauen zum Leben dazu. Die potenzielle Gefahr ist Teil unserer Normalität. Wie absurd dieser Zustand eigentlich ist, hat mir ein grausamer Mord vor Augen geführt.


Am Abend des 3. März 2021 befinde ich mich kurz vor Mitternacht auf dem Weg zu meinen Eltern. Ich sitze alleine im Bus und fühle mich beschwingt von den drei Gläsern Wein. Die guten Gespräche von eben legen sich wie ein warmer Schleier über meinen Körper. Für einen Moment ist es vergessen, dieses beklemmende Gefühl, was mich sonst oft ereilt, wenn ich alleine nachts zurück an den Stadtrand fahre. Der ältere Mann, der an der nächsten Haltestelle einsteigt, ruft es wieder in mir hervor. Er setzt sich neben mich. Obwohl doch sonst alles frei ist. Seine Nase ragt provokant über die Maske und sein Blick fixiert meine Beine. Ich überkreuze sie. Starre aus dem Fenster. Auf einmal stocknüchtern. Die Anspannung lässt erst nach, als der Mann eine Haltestelle vor meiner ruckartig aufsteht und aus dem Bus steigt. Ich lehne mich mit klopfendem Herzen zurück in den Sitz. Und komme mir plötzlich furchtbar albern vor.

Fast 800 km entfernt will auch Sarah Everard von einer Freundin zurück nach Hause. Aber Sarah kommt dort nie an. Sie wurde umgebracht. Tage später findet man ihre Leiche. Ihr Mörder? Ein Polizist. Sarah? Ein Zufallsopfer. Eine von unzähligen Frauen, die jedes Jahr von einem Mann getötet werden – in England und überall auf der Welt. 

Kurz nach Sarahs Tod postet die britische Influencerin Lucy Mountain in ihrem Feed einen Ausschnitt aus einem WhatsApp-Chat. „Text me when you get home xx“ schreiben die Lettern. 

Das Bild geht viral. Es wird tausendfach geteilt, geliked und kommentiert. In der Bildbeschreibung erläutert Lucy die Hintergründe des Screenshots, der in Anlehnung an den Mord von Sarah Teil einer medialen Debatte über die Sicherheit von Frauen wird. Zumindest in Großbritannien. In Deutschland fallen die Reaktionen verhaltener aus, aber auch hier findet das Thema Einzug in den öffentlichen Diskurs. In meiner Bubble jedenfalls dominiert es lange den Algorithmus.

So entdecke ich Lucys Post auch in meinem Feed. Ohne über die entsprechenden Hintergründe informiert zu sein, fühle ich mich sofort angesprochen. Ich muss schlucken. Beim Lesen der Bildbeschreibung, die den täglichen Umgang von Frauen mit Unsicherheit im öffentlichen Leben beschreibt, schießen mir tausende Gedanken durch den Kopf. Beinahe jeden Satz untermalt mein Gehirn mit szenenhaften Erinnerungen, die es aus den Untiefen meines Kopfes kramt – wo ich sie sie viel zu lange habe liegen lassen. 

Unsicherheit als Normalzustand 

Das ist jetzt fast ein Jahr her. Und immer noch beschäftigt mich das Thema wie kaum ein anderes. „Schreib mir, wenn du zuhause bist“ – Dieser Satz ist keine Floskel. Dieser Satz ist kein Sinnbild. Dieser Satz ist bittere Realität. Dieser Satz gehört in meiner sowie in der Lebenswelt vieler anderer Frauen zum guten Ton – so wie „Tschüss“ oder „Hallo“. Er ist Teil unseres Alltagsvokabulars. Er ist Normalität. Die Sorge, dass mir, einer meiner Freundinnen oder irgendeiner anderen Frau draußen etwas passieren könnte, ist unsere ständige Begleiterin – mag sie auch noch so latent, noch so unscheinbar oder noch so vermeintlich unbegründet sein.

„Passieren“ bedeutet nicht, dass es wie im Fall von Sarah zu einem tatsächlich tätlichen Angriff kommt. „Passieren“ umfasst schon das Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen – nachts (oder auch tagsüber) auf der Straße, im Park, im Taxi – oder im Bus auf dem Weg zum Stadtrand. „Passieren“ bedeutet auch das Gefühl, übervorsichtig zu sein und sich anpassen zu müssen; keine Kontrolle über die Situation zu haben. Das Gefühl im Fall der Fälle immer den Kürzeren zu ziehen.

Am meisten aber erschüttert mich, wie normal dieser Zustand mir bisher immer vorkam. Wie normal es war, Rückwege nach ihrem Standort genau und sorgfältig zu planen. Wie normal es war, auszuklügeln, ob der Fußweg oder das Fahrrad die sicherere Variante seien oder ob der nachts nur so spärlich beleuchtete Park durchquert werden sollte. Wie normal es war, Telefonate zu faken, wenn die komische Gestalt in der Bahn mir zu nahe kam. Wie normal mir die Möglichkeit erschien, dass trotz aller Vorsicht immer etwas passieren kann. Wie normal es war, der Freundin schnell noch ein „@home“ zu texten. 

Und mittlerweile weiß ich: Dieser Zustand ist absolut nicht normal. Und dennoch Realität. Realität einer Sozialisation, die Frauen beibringt, dass sie als „schwächeres“ Geschlecht in der Öffentlichkeit auf sich Acht zu geben haben. Dass wir dringend darüber reden müssen, zeigt uns nicht erst der Fall von Sarah. Trotzdem hat es ihn und die darauffolgende Debatte gebraucht, um mir zumindest die Absurdität dieses Missstandes zu verdeutlichen. 

Und trotz all der Vorsicht, trotz all der Mechanismen, die wir uns antrainiert haben, uns so sicher wie möglich durch unsere Umwelt zu bewegen und die uns so natürlich vorkommen wie Atmen, ist allein in Deutschland fast jede zweite Frau schon mal konkret sexuell belästigt oder bedrängt worden.

Und jetzt? Ist es schon wieder unheimlich still. Corona, schwurbelnde Schlagerstars oder unzurechnungsfähige Diktatoren verdrängen das Thema aus den Mainstream-Medien. Wie viele Sarahs braucht es, damit sich endlich etwas an der Lebensrealität von Frauen verändert? Damit wir uns endlich und aufrichtig dieser Debatte widmen?

We won’t forget.

Nachtrag: Wenn ihr Männer seid und dazu beitragen wollt, dass Frauen sich sicherer fühlen, dann schaut doch mal bei diesem Artikel von amazed vorbei. Danke.


Von Alex (25): Alex schreibt am liebsten über Erfahrungen, Gefühle und Erlebnisse, nachdem sie ihre eigenen Gossip Girl-Romane hinter sich gelassen hat. Sie hat es drauf, so zu schreiben, dass man sich abgeholt fühlt und relatet, obwohl man vorher vielleicht nicht wusste, dass man das gefühlt hat; geschweige denn, wie man es hätte ausdrücken sollen. Mit ihrer ansteckenden guten Laune ist sie ein richtiger Herzensmensch, der fantastische Rotwein-Spaghetti zaubern kann.

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